Jeder Musiker kennt Retardierungsträume: Du siehst Dich als Solist, der ein berühmtes Violinkonzert mit Orchester spielen soll. Als Du im Konzertgebäude ankommst, hörst Du schon, wie sich das Orchester einstimmt. Du hast noch Jeans, T-Shirt und Flipflops an und weißt genau: Ich bist viel zu spät dran. Ohne Dich umzuziehen rennst Du in Richtung Bühne. Auf dem Weg dorthin drückt Dir jemand eine Tuba in die Hand und wünscht Dir "Viel Glück!". Du gehst auf die Bühne, das Publikum applaudiert frenetisch, die Scheinwerfer blenden. Du hast noch nie im Leben Tuba gespielt. Du erkennst die Melodie, die das Orchester zu spielen beginnt. Du stehst mitten auf der Bühne mit dieser riesigen Tuba und das Publikum schaut Dich erwartungsvoll an. Der Angstschweiß läuft Dir von der Stirn. … Im besten Falle wachst Du jetzt auf.
Uns Ladystrings ist so etwas zum Glück noch nie wirklich passiert. Wir waren bisher immer rechtzeitig mit dem richtigen Instrument am richtigen Ort. Nur ein einziges Mal als wir getrennte Garderoben hatten, wäre Maria Friedrich fast in der falschen Kleidung auf die Bühne gekommen. Wir hatten uns für den ersten Teil dieses Konzerts auf Abendkleider verständigt. Dorothea, Lisa und Charlotte warteten schon im Einspielraum, als Maria im Kleinen Schwarzen in der Tür stand und erstaunt fragte: "Was habt Ihr denn an?"
Uns allen ist es wichtig, dass vor einem Konzert keine Hektik herrscht. Das bedeutet, dass wir rechtzeitig am Konzertort eintreffen. Nach einem kurzen Gespräch mit unserem Ansprechpartner oder dem Veranstalter gehen wir in den Saal, bauen die Pulte auf und testen die Akustik. Es folgt eine Anschlussprobe, in der wir die Übergänge von Musik zu Sprache durchgehen. Jede von uns hört dann einmal vom Saal aus auf die Balance und worauf wir bei der Sprache achten müssen. Meistens ist zeitgleich der für die Beleuchtung Zuständige anwesend.
Danach geht's in die Garderobe. Etwa 60 Minuten vor Konzertbeginn wird es dort ganz ruhig , wir richten unseren Fokus nach innen. Manchmal gehen Dorothea und Maria noch ein paar Schritte an die Luft. Ein paar Minuten alleine sein tut jeder von uns gut, um ganz bei sich sein zu können. Auf die innere Konzentration folgt die äußere Verwandlung: Konzertkleidung anziehen, schminken, Haare frisieren. Eine warme Garderobe ist dafür wunderbar. Fehlt die Wärme, helfen wir uns mit warmem Tee oder Wasser. Die Ruhe wird nur durch kurze Fragen unterbrochen: "Wie spielst Du den Anfang der Fuge?", "Heller oder dunkler Lippenstift?", "Spielen wir heute den ersten Teil mit Jacke?". Ab diesem Zeitpunkt hat jede von uns ein eigenes Ritual: Charlotte trinkt einen Schluck Kaffee oder Cola light, putzt Zähne und lutscht eine Nelke. Lisa zieht Pulswärmer an und nimmt einen Schluck Wasser, den sie zur Förderung der Konzentration eine Weile im Mund behält. Maria macht etwas Gymnastik. Dorothea nimmt gelegentlich geheimnisvolle "Wundertropfen".
Unmittelbar vor dem Auftritt überprüfen wir, ob alle Reißverschlüsse an den Kleidern tatsächlich geschlossen sind, es folgen ein paar gemeinsame Intonations- und Sprachübungen, die meistens in lautem Gelächter enden, und dann heißt es: "Auf geht's, Mädels! Viel Spaß!"